Das Ministerium für Verbraucherschutz und Landwirtschaft will die wilden Spekulationen um die Chemikalie Acrylamid mit soliden Fakten auf eine sachliche Ebene zurückführen. Wie es aus dem Hause Künast heißt soll eine Zwischenbilanz mit den Ergebnissen von rund 1000 Proben gezogen werden, welche „die Gefahrenkurve beschreiben“. Die verunsicherten Verbraucher sollen endlich erfahren, wie viel Acrylamid bei welchen Herstellungsprozessen tatsächlich entsteht.
Aus diesen Analysen will das Ministerium dann zwar keinen amtlichen Grenzwert, aber einen rechtlich unverbindlichen „Signalwert“ ableiten, welcher künftig von der Industrie nicht überschritten werden soll. Dieser „Signalwert“ werde dann im nächsten Jahr noch Schritt für Schritt weiter gesenkt.
Wie ernst die Acrylamid-Problematik genommen wird, demonstrierte die Weltgesundheitsorganisation WHO. Noch nie stellten die Genfer Gesundheitshüter innerhalb so kurzer Zeit einen Krisengipfel auf die Beine. Schon im Juni diskutierten 23 Experten aus aller Welt drei Tage lang über das neu entdeckte Risiko durch Chips, Pommes, Bratkartoffeln und Knäckebrot. Zu konkreten Empfehlungen konnte man sich nicht durchringen. Die Acrylamid-Funde seien ein „schwerwiegendes Problem“, aber man wisse noch zu wenig darüber. Wie üblich, forderte die WHO eine abwechslungsreiche Mischkost mit viel Obst und Gemüse. Betont vorsichtig wies man darauf hin, es sei Konsens, dass der Verbrauch der gerade bei Kindern heiß geliebten Kartoffelstäbchen und Chips reduziert werden sollte.
Gesundheitsbehörden zufolge könnte die Substanz für drei Prozent aller Krebsfälle verantwortlich sein. Doch wirklich seriös, ist diese Zahl nicht. Aber es werden täglich neue Risikokandidaten entdeckt: Lebkuchen und Vanillekipferl, Cracker, Cornflakes, Kaffee und Krustenbrot. Acrylamid kommt offen sichtlich in einer so großen Zahl von Lebensmitteln vor, dass eine Vermeidungsstrategie kaum möglich ist.
Acrylamid entsteht wenn Zuckermoleküle und bestimmte Aminosäuren gemeinsam erhitzt werden. Dieser Vorgang entzückt normaler Weise jeden Koch wegen der herrlich aromatischen Röststoffe. Nach Schätzungen nehmen wir dadurch jedoch durchschnittlich 30 bis 70 Mikrogramm (millionstel Gramm) pro Tag zu uns, das entspräche, je nach Statur, fast einem Mikrogramm pro Kilo Körpergewicht. Wie der Körper das Gift verarbeitet und wie schnell er es wieder los wird, weiß indes niemand. Selbst die zentrale Frage, ob der Stoff beim Menschen wirklich Krebs auslöst, ist nicht eindeutig zu beantworten.
Versuche an Ratten sprechen allerdings dafür. Ein Milligramm (tausendstel Gramm) pro Kilo Körpergewicht gilt als niedrigste Dosis, die bei täglicher Zufuhr regelmäßig Krebs bei Ratten auslöst. Damit hätte man einen „Sicherheitsabstand“ von Faktor tausend gegenüber der Durchschnittsaufnahme beim Menschen und Faktor hundert gegenüber Essern mit extremem Pommes- und Chipshunger. In der Toxikologie gilt das als viel zu riskant. Dies bestätigt auch der strenge Grenzwert für Acrylamid im Trinkwasser von 0,1 Mikrogramm je Liter und demonstriert den Respekt, den die Wissenschaft vor dieser Substanz hat. Andererseits könnte man die Fast-Food-Ketten gleich schließen, würde man ähnlich scharfe Werte wie beim Wasser verhängen. Denn wer eine Portion Pommes verzehrt, isst, je nach Bräunungsgrad, bis zu 500-mal mehr Acrylamid als in einem Liter Wasser maximal erlaubt sind.
Die Konzentrationen des Gifts hängen im hohen Maße von den Details des Herstellungsprozesses ab und gehen bisher extrem weit auseinander. So waren z.B. bei Knäckebrot einige Proben hoch und andere gar nicht belastet. Warum das so ist, bleibt das Geheimnis der Hersteller.
Aus diesem Grund schimpft auch Christian Fronczak vom Bundesverband der Verbraucherinitiativen darüber, dass nicht längst veröffentlicht werde, welche Marken wie stark belastet seien. Der Fall Acrylamid zeige erneut, wie wichtig das im Bundesrat gescheiterte Verbraucher-Informationsschutzgesetz sei.
Angesichts des derzeit niedrigen Forschungsstands scheuen Politik und Wissenschaft die Konfrontation mit der Industrie, sie fürchten offenbar Schadensersatzklagen.
Die Industrie hingegen argumentiert, dass der Mensch mit Acrylamid konfrontiert ist seit er sein Essen durch Feuer erhitzt, also seit 360 000 Jahren. Auch die WHO glaubt, dass sich der Mensch im Laufe der Evolution an hoch erhitzte, gebratene und gebackene Speisen gewöhnt haben könnte. Dennoch: In Lebensmittel gehöre so wenig Acrylamid wie möglich. Auf diese Formel kann man sich einigen.
Wozu der Lebensmittelchemiker rät:
- Ab 120 Grad entsteht beim Frittieren Acrylamid und ab 170 Grad nimmt die Menge sprunghaft zu. Also sollten Sie unter 170 Grad frittieren und unter 180 Grad backen.
- Man sollte keine gelagerten Kartoffeln verwenden, die schon ausgekeimt sind, da sie größere Mengen Asparagin enthalten, was wesentlich an der Entstehung von Acrylamid beteiligt ist.
- Je mehr Wasser ein Lebensmittel enthält desto besser.
- Bei niedrigen Temperaturen schneiden Sonnenblumenöl und Rapsöl besser ab als Palmöl.
- Bei größeren Portionen war im Labor der Acrylamidgehalt niedriger. Deshalb sollte man möglichst große Mengen backen oder frittieren.