Sie befinden sich hier:
Startseite->Artikel->Amazonien im Jahr 2012 - mehr Staudämme und weniger Waldschutz drohen

Amazonien im Jahr 2012 - mehr Staudämme und weniger Waldschutz drohen

Im Prinzip sind sich Umweltwissenschaftler, Klimaschützer und Indigene Völker einig: Die Amazonasabholzung muss aufhören genauso wie die Abholzung der Cerrado- und Caatinga-Wälder Zentral- und Nordostbrasiliens. Doch dies steht im krassen Gegensatz zum "Entwicklungs-" oder besser gesagt Kolonisierungsprogramm der brasilianischen Regierung Dilma Rousseff und der Vorgängerregierung Lula da Silvas: Mehr Straßen, mehr Staudämme, mehr Rohstoffausbeutung, mehr Erdölfördertürme und Erzbergbau in Amazonien, mehr Biosprit und mehr Zersiedlung im ganzen Land.

Nachdem der Kampf um die von Lula da Silva auf den Weg gebrachten katastrophalen Staudammbauten Santo Antônio und Jirau am großen Amazonaszufluss Rio Madeira mangels nationalen und internationalen Protesten bereits verloren war, konzentrierte sich im vergangenen Jahr (2011) die Regenwaldschutzbewegung gegen den Bau des gigantischen Wasserkraftprojektes Belo-Monte sowie gegen die geplante "Verwässerung" des brasilianischen Waldgesetzes, dem so genannten Código Florestal.

Allen Protesten und der bevorstehenden UN-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro (Rio plus 20) zum Trotz scheint Dilma Rousseff aber sowohl an Belo Monte wie an der Reform des Waldgesetzes festzuhalten. Die Bauarbeiten am Megastaudamm, der den Rio Xingu in weiten Teilen erheblich beeinträchtigen, wenn nicht sogar vernichten wird, sind nicht nur weiter im Gang, ein zweites "Belo Monstrum" ist bereits am Rio Tapajos in Amazonien in Planung. Auch das Gesetzesvorhaben zur Änderung des Código Florestal ist auf dem "rechten" Weg, die letzten politischen Hürden Anfang 2012 zu passieren.

Fehlt nur noch seine Verabschiedung durch die Abgeordnetenkammer, um schließlich von Präsidentin Dilma Rousseff unterschrieben zu werden.

Allen voran der World Wide Fund for Nature (WWF) und Greenpeace Brasilien machten sich 2011 stark gegen die Waldgesetzreform und starteten internationale Aktionen, "damit die Zerstörung von 76,5 Millionen Hektar Wald" verhindert werde. "Wissenschaftler, Umweltverbände, aber auch Kirchen und Gewerkschaften, die Kleinbauernvereinigung Via Campesina und die Landlosenbewegung MST kämpfen gegen das neue Gesetz, das gigantische Waldzerstörung zulässt, illegale Abholzungen amnestiert, und von dem niemand profitiert — außer der Agrarlobby", so der WWF. "Alle Studien zeigen, dass das Gesetz zu massiver Bodenerosion und Störung des Wasserkreislaufs führen wird - ganz abgesehen von den klimatischen Auswirkungen der zusätzlichen 28 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalenten an Treibhausgasen." Und nicht nur dies. Nach Meinung des Umweltverbandes drohe nach der Reform des Código Florestal die gesamte brasilianische Umweltschutzgesetzgebung zerschlagen und selbst Schutzgebiete für Infrastruktur- und Energieprojekte geopfert zu werden.

Starker Tobak!

Tatsächlich ist die Umweltsituation Brasiliens zu Beginn 21. Jahrhunderts kein Zuckerschlecken! Unter acht Jahren Lula da Silva wurden nicht nur in Brasilien die Sozial- und Umweltbewegungen regelrecht eingelullt oder besser gesagt "eingelulat": Alle kommen zu Wort, doch niemand hört wirklich zu, und Regierung sowie Agro- und Bergbaubusiness machen was sie wollen!

Hungerstreiks gegen die katastrophale, mehrere Milliarden Euro teure Teilumleitung des Rio São Francisco, des größten in Brasilien entspringenden Flusses;

Dutzende von Demonstrationen auf der grünen Wiese vor dem Präsidentenpalast in Brasilia; die Vergabe von Menschenrechts- und Umweltprämien; selbst medienwirksame Amazonasbesuche von Avatar-Star-Regisseur James Camaron: Nichts hilft. Der Brasilianische Umwelt-Tiger scheint harmlos und ohne Zähne zu sein. Die Hunde bellen, doch die Karawane, die Zerstörung Brasiliens geht weiter!

Auch der Einsatz der großen, Millionen Dollar schweren Umweltschutzorganisationen Greenpeace und WWF für ein von Diktatoren geschriebenes Waldgesetz, das tatsächlich Abholzung nicht verbietet, sondern lediglich begrenzt, und für die legale Vernichtung von Dutzenden von Millionen von Hektar Cerrado- und Regenwald in den vergangenen 60 Jahren verantwortlich ist, scheint symptomatisch.

Der Código Florestal hat seinen Ursprung in der Regierung des "Gaucho" und Diktators Getúlio Várgas aus dem mehrheitlich von deutsch-italienisch stämmigen Wirtschaftsflüchtlingen (Immigranten) geprägten und von Indianern "bereinigten" Bundesstaates Rio Grande do Sul. Sein Waldgesetz von 1934 war faktisch Teil seines "Marsches nach Westen", um die von Indianern genutzten und bewohnten letzten Atlantischen Regenwälder und die Cerrado-Gebiete im Westen sowie im Herzen Brasiliens urbar zu machen, mit "Brasilianern" zu kolonisieren, sprich abzuholzen und gleichzeitig die Umweltschäden in kontrollierte Grenzen zu halten. Die traditionellen Besitzrechte der Ureinwohner wurden in keinster Weise berücksichtigt. Nur so konnten brasilianische Bundesstaaten wie Paraná oder Mato Grosso zum Soja-Meer und der italienisch stämmige Blairo Maggi zum Soja-König werden.

Tausende von Ureinwohnern wurden im Rahmen dieses auch nach der Regierung Várgas fortschreitenden Marsches nach Westen und Zentralbrasilien "pazifiziert", das heißt des Landes beraubt, in Missionen oder Reservate gesteckt oder schlicht ermordet: Ein Genozid zu Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts, der bis dato noch darauf wartet im Detail anerkannt und aufbereitet zu werden. Der heute von Sojaplantagen und künstlichen Rinderweiden eingezwängte, 1961 errichtete Xingu-Indianer-Park (Parque Indígena do Xingu), in den mehrere des Landes beraubte Indianervölker aus Zentralbrasilien "zu ihrem eigenen Schutz" umgesiedelt wurden, ist eines der markanntesten Beispiele dafür.

Das aktuell zum Disput stehende und von den großen Umweltorganisationen verteidigte Waldgesetz ist eine 1965 von der Militärdiktatur General Castelo Branco verabschiedete Reform des Código Florestal von Vargas, das die Abholzungsrichtlinien für ganz Brasilien konkret festlegt: Demnach dürfen Grundbesitzer in Amazonien 20 Prozent ihres Waldes abholzen, in der Cerrado-Region 65 Prozent und in den anderen Regionen Brasiliens 80 Prozent abholzen. Wer mehr abholzt, muss mit einer Strafe rechnen.

So wie unter Várgas diente das reformierte Waldgesetz schlicht dazu, der fortschreitenden, strategischen Kolonisierung Amazoniens und der Cerrado-Regionen mit Brasilianern aus Sued- und Nordostbrasilien einen grünen Anstrich zu verleihen. Es galt zwei Probleme zu lösen, so Präsident und Diktator General Emílio Garrastazu Médici, der für den Bau der legendären Transamazonica, der ersten Überlandstrasse quer durch Amazonien verantwortlich war: "Menschen ohne Land im Nordosten und Land ohne Menschen in Amazonien." Die in diesem "Menschen leeren" Amazonien lebenden Ureinwohner waren weiterhin schlicht nur ein zu pazifizierendes Hindernis.

Damals, 1960, war das rund vier Millionen Quadratkilometer große Amazonasgebiet noch zu 99 Prozent Staatsland oder Staatswald, bewohnt von Hunderten von Indianervölkern und nicht-indianischen Bevölkerungsgruppen, die den faktisch Grenzen losen Wald nachhaltig nutzten. Lediglich 0,9 Prozent waren Privatbesitz. Doch mit jedem neuen Straßenkilometer wuchsen Landraub, Bodenspekulation und Waldvernichtung an. Zwischen 1980 und 1990 holzten die "Neuankömmlinge" im Schnitt jährlich 20.000 Quadratkilometer Amazonasregenwald ab. Die Abholzungsgeschwindigkeit verringerte sich zwar in den Folgejahren, doch liegt sie heute immer noch bei mehreren Tausend Quadratkilometern pro Jahr.

So verlor Amazonien 2011 laut vorläufiger Schätzung des Nationalen Weltraumforschungsinstituts INPE (Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais) über 6.000 Quadratkilometer Wald. Der Kuchen wird immer kleiner, so auch die Stücke. Schätzungsweise 25 Prozent des brasilianischen Amazonasgebiets (Amazônia Legal) sind heute "privatisiert" und größtenteils abgeholzt.

Noch schlimmer traf es die Cerrado-Region in der die meisten Flüsse Brasiliens entspringen. Von dem einst zwei Millionen Quadratkilometer großen Savannen-Ökosystem sind heute nur noch 20 Prozent intakt, so die Naturschutzorganisation Conservation International. Und auch dieser Rest steht weiterhin zum überwiegenden Teil ohne Schutz und frei zur Abholzung dar.

Konkret geht es heute um 44 Millionen Hektar Amazonasregenwald sowie um 26 Millionen Hektar Wald außerhalb der Region, die zwar in der öffentlichen Hand, aber weiterhin ohne Schutz sind. Gebiete, in denen möglicherweise mehrere noch nicht kontaktierte Indianervölker leben. Die Indianerbehörde FUNAI hat bislang 67 noch nicht kontaktierte Indianergruppen in ganz Amazonien identifiziert.

Statt für ein bestenfalls hilfloses Waldgesetz der brasilianischen Militärdiktatur zu streiten, nur weil die nun von der Großgrundbesitzerlobby angestrebte Reform noch schlimmer wäre, sollte eher das tatsächlich für die großflächigen Abholzungen verantwortliche brasilianische Entwicklungs- oder Kolonisationsmodell in Frage gestellt werden. Auch geht es nicht nur um Amazonien. Biodiversität und kulturelle Vielfalt sind in ganz Brasilien bedroht.

Im ganzen Land sind Hunderte von Staudämmen geplant wie beispielsweise im Bundesstaat Minas Gerais. Quasi jeder größere Fluss des ursprünglich mit Cerrado und Atlantischem Regenwald bestandenen Bundeslandes soll der Stromproduktion zur Verfügung stehen, bei gleichzeitiger Ausweitung des Erzbergbaus und der Eukalyptusplantagen über ganze Bergregionen. Ausverkauf total!

Selbst Nationalparks sind nicht mehr vor dem Zugriff des Bigbusiness sicher. So droht dem Nationalpark Serra da Canastra von Minas Gerais, in dem der berühmte Rio São Francisco entspringt, die Zerstückelung für Diamanten-Minen und Agrobusiness.

Absurd beispielsweise ist auch, dass heute im 21. Jahrhundert, wenn die aufgeklärte Welt nach natürlichen Nahrungsmitteln giert, die natürliche Pampa-Region in Südbrasilien, in der traditionell seit jeher eine nachhaltige, extensive Rinderzucht betrieben wird, zusehends in umweltschädliche Eukalyptusmonokulturen umgewandelt wird. Zellstoff und Biosprit der 2. Generation statt gesundes Rindfleisch. Was im Sueden Rio Grande do Suls, aber auch in anderen Teilen Brasiliens sowie im Nachbarland Uruguay geschieht, könnte man mit einem leicht veränderten Spruch des berühmten "Häuptling Seatle" beschreiben: "Erst wenn die letzten Wiesen und Weiden in Baummonokulturen umgewandelt sind, werdet ihr feststellen, dass man Eukalyptusholz und Biosprit nicht essen kann."

 

Norbert Suchanek
Journalist und Autor
Internet: www.norbertsuchanek.org
E-Mail: norbert.suchanek(at)online.de