Der brasilianische "Supergau" begann mit einer auf dem ersten Blick harmlosen und alltäglichen Situation: Zwei jugendliche Müllsammler, Roberto Alves und Wagner Mota, entdecken ein veraltetes Tonnen schweres Bestrahlungsgerät zur Behandlung von Krebskranken in einem seit zwei Jahren leer stehenden und unbewachten radiologischen Institut. Sie holen einen schweren Bleizylinder der medizinischen Strahlenkanone heraus, um ihn später zu Geld zu machen. Blei ist ein Recycling fähiges Material, das in Brasilien leicht Abnehmer findet. Was die beiden Jugendlichen nicht wussten, war, dass der Zylinder nicht nur radioaktiv belastet war, sondern auch in sich einen hochradioaktiven Kern enthielt. Roberto Alves und Wagner Mota werden stark verstrahlt und leiden wenig später an Fieber, Durchfall und Erbrechen. Sie beschließen den Zylinder an den Schrotthändler Devair Alves Ferreira zu verkaufen, um Medikamente zur Linderung der Beschwerden zu kaufen.
Der Schrotthändler schließlich brach - gleichfalls aus simpler Unwissenheit heraus -den Bleimantel auf und entdeckte darin eine herrlich bläulich schimmernde kristallene Substanz: 19 Gramm des hochradioaktiven Gammastrahlers Cäsium 137. Devair Alves Ferreira holte die radioaktiven Kristalle heraus, um sie der Familie, Freunden und Bekannten zu zeigen und um sie irgendwie zu verwerten. Niemand machte sich irgendwelche Gedanken über die Gefahr, denn Radioaktivität schmeckt nicht, riecht nicht, ist unsichtbar und tut erst später weh! Die radioaktive "Kettenreaktion" nahm ihren Lauf. Der Gammastrahler wurde über mehrere Wohnbezirke verschleppt. Ganze Straßenzüge und Plätze wurden mit radioaktiven Caesium kontaminiert, Tausende von Menschen den tückischen Strahlen ausgesetzt.
Opfer im Bleisarg begraben
An den direkten Folgen der harten Gammastrahlen des Caesium 137 sind kurz nach dem Freisetzen des Materials vier Menschen gestorben. Darunter die sechs Jahre alte Leide Alves Ferreira, deren hochgradig radioaktiver Leichnam in einem bleiernen Sarg mit Zementmantel begraben wurde. "Es ist sehr schwer eine genaue Anzahl der Verstrahlten zu nennen", sagt Odesson Alves Ferreira, selbst Strahlenkrank und heutiger Präsident der Vereinigung der Cäsium-137-Opfer (AVCésio). Die Nationale Kommission für Atomenergie (CNEN) hatte nach dem Unfall fast 13.000 Menschen untersucht und über die Hälfte davon zeigten einen Grad an Verstrahlung. "Doch nur 249 von ihnen bekamen zunächst eine angemessene Beachtung und Behandlung", klagte Odesson. Insgesamt hätten bis heute erst 468 Strahlenopfer staatliche Anerkennung und Hilfe bekommen.
Odesson: "Wir von der AVCésio und das Ministerium für öffentliche Angelegenheiten (Ministério Público) von Goiás schätzen aber, dass insgesamt etwa 1.600 Personen in Kontakt mit Cäsium 137 oder damit stark radioaktiv verseuchten Gegenständen und Personen kamen." 84 der Betroffenen seien bereits gestorben. Und 860 Opfer-Anträge befänden sich bis noch in den Mühlen von Justiz und Bürokratie. Doch selbst wenn die Betroffenen eines Tages offiziell als Opfer anerkannt werden. Die Entschädigung wird höchstwahrscheinlich minimal ausfallen. Laut AVCésio bekommen die bisher offiziell anerkannten 468 Cäsium-137-Opfer lediglich eine "lebenslange" Rente in Höhe von 1.020 bis 1.322 Reais - umgerechnet rund 400 bis 550 Euro. Währenddessen geht das Leid - weitestgehend unbeachtet von den brasilianischen Massenmedien und den aktuellen Wahlkämpfern um das Amt des brasilianischen Präsidenten - weiter.
Die Cäsium-Opfer sind kein Wahlkampfthema
"Die Cäsium-137-Opfer entwickelten die verschiedensten Krankheiten wie Gastritis, Magengeschwüre, Depression und verschiedene Formen von Krebs", erläutert Odesson. Auch seien - als Folge der Strahlung - so genannte Alterskrankheiten wie Osteoporose, Bluthochdruck, Sehstörungen, Vergesslichkeit und andere psychische oder Gehirnerkrankungen verfrüht aufgetreten. Odesson: Besonders schmerzlich für uns Cäsium-137-Opfer ist die Unsicherheit, der Mangel an wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit. Die Mediziner geben uns keine Antwort auf die verschiedenen Symptome, unter denen wir leiden. Das Fehlen von Zuversicht in die Zukunft der Kinder. Einige wurden mit Behinderungen geboren und niemand gibt uns Klarheit über die Ursache. Sie sagen einzig, das habe nichts mit der radioaktiven Kontaminierung zu tun."
Der Unfall inGoiânia verstrahlte nicht nur "Zivilpersonen", sondern auch eine große Anzahl von öffentlichen Hilfskräften wie Polizisten, Sanitäter, Ärzte, Feuerwehrleute und Bauarbeiter die sich um die akut Erkrankten und die späteren Aufräumarbeiten kümmerten. Doch auch diese Cäsium-Opfer wurden bis heute mehrheitlich kaum entschädigt. Odesson: "Man riss die verseuchten Gebäude genauso ab wie jedes andere Haus, ohne entsprechende Schutzvorkehrungen gegen Radioaktivität.†Gleiches gilt für den Abtransport des kontaminierten Materials und des verstrahlten Bodens der Parks. Insgesamt 13,4 Tonnen Atomabfall, 3.500 Kubikmeter, wurden in Fässer verpackt und schließlich einige Jahre später in ein betoniertes "Endlager" vergraben, das ganz im George Orwellschen Stil Landesnaturschutzgebiet "Parque Estadual Telma Ortegal" genannt wurde. Der insgesamt 150 Hektar große 1995 gegründete "Naturpark" besteht offiziell aus einer Naturschutzzone von nur 4,99 Hektar. Der erheblich größere Rest ist faktisch Atommülldeponie.
Vergangenen August bekamen die Cäsium-137-Opfer nun erstmals eine Audienz beim Präsidenten des Gerichtshofes des Bundesstaates Goiás. Strahlenopfer Odesson zeigte sich zufrieden mit dem Ergebnis, denn Gerichtshofpräsident Paulo Teles versprach nun eine zügigere Bearbeitung Anträge. Odesson: "Wir sind mit dem Ergebnis zufrieden, wenn man bedenkt, dass sich die Justiz nun 23 Jahre nach dem Unfall zum ersten Mal um uns "Verstrahlte" besorgt zeigte.
Norbert Suchanek
Journalist und Autor
Internet: www.norbertsuchanek.org
E-Mail: norbert.suchanek(at)online.de