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Auch mit Null Dollar in der Tasche kann man reich sein

Gefährliche Weltbank-Definition für Armut.

Trotz der Hitze war es angenehm temperiert in der auf Stelzen gebauten, im wahrsten Sinne des Wortes luftigen Hütte. 20.000 Kilometer von meiner Mietswohnung entfernt saß ich zusammen mit einer fünfköpfigen Papua-Familie in ihrem Pfahlhaus am Ok Tedi-Fluss. Es gab Süßkartoffeln, Sago und Blattgemüse. Fast alles, was sie zum Leben brauchten, lieferte ihnen ihr Waldgarten am Ufer. Wildfleisch, Medizin, Feuer- und Bauholz gab es im umgebenden Wald, und der Fluss war reich an Fischen. Ich war irgendwie neidisch auf die Papua-Familie. Sie hatten alles, was ich nicht hatte. Sie hatten ein Haus, einen großen Garten und einen ganzen Lebensraum, der ihnen gehörte. Ich hatte nichts dergleichen, außer einem abhängigen Job, mit dem ich mit Mühe meine Mietwohnung, Essen, Telefon, Computer und die notwendigen Fahrtkosten finanzieren konnte. Im Vergleich zu meinen großzügigen Gastgebern, die mich freundlich in ihre Reihen aufgenommen und versorgt haben, war ich es, der arm war. Nach Maßstäben von Weltbank und internationaler Entwicklungshilfe aber war die Papua-Familie so ziemlich das ärmste, was es auf der Welt gibt. Denn sie verdiente keinen einzigen Dollar pro Tag. Aber warum auch? Es bestand ja überhaupt nicht die Notwendigkeit auch nur einen Cent zu verdienen. Anders der Linguistiker einer fundamentalistischen US-evangelischen Kirche, der in einem stickigen Wellblechhaus mit Klimaanlage und eigenem Generator wohnte und sich weitestgehend von importierten Weißbrot, Erdnussbutter und Orangenmarmelade ernährte. Seine Aufgabe war es, die lokale Sprache zu studieren und die Bibel in diese Sprache zu übersetzen. Noch amüsierte sich die Papua-Familie über diesen seltsamen „Missionar“ und seine Lebensweise.

So wie diese Ureinwohner im Westen Papua-Neuguineas leben noch heute viele Millionen Menschen anderer Völker in anderen Erdteilen von der so genannten Subsistenzwirtschaft, die quasi das Ideal einer lokalen, regionalen und ökologisch nachhaltigen Ökonomie ist — das bei uns seit einiger Zeit eingeführte, neue Öko-Modell für eine Nachhaltige Entwicklung, „Wochenmarkt statt Weltmarkt“, auf die Spitze getrieben: Lokal anbauen, lokal weiterverarbeiten, lokal handeln, lokal verbrauchen: Der Subsistenzbauer in Brasilien, die Penan auf Borneo, die Papua-Völker auf Neuguinea praktizieren dies auf kleinstem Raum, wobei sie ebenso im Tauschhandel die Nachbarn mit ihren durchaus ebenso erzielten Überschüssen versorgen.

Es ist natürlich klar, dass wirklich selbständige Bauern, die ihre eigenen Äpfel, ihr eigenes Gemüse anbauen, nicht in den Supermarkt gehen, um dort Äpfel oder Gemüse zu kaufen. Der Weltmarkt kann nicht an ihnen verdienen, niemand kann ihnen kündigen. Arm werden diese von Weltmarkt und Arbeitgebern unabhängigen, autark lebenden Menschen erst, wenn man ihnen ihr Land, ihren Fluss oder ihre Lebensweise und Kultur nimmt und auf „westlich“ trimmt — in die Abhängigkeit treibt. Aber genau dies geschieht im Namen und mit Hilfe von Weltbank, staatlicher Entwicklungshilfe und so manchen fundamentalistisch-christlichen Missionaren seit Jahrzehnten. Zum Beispiel in Papua-Neuguinea, wo ich in den 1990er Jahren über die Auswirkungen des von den internationalen Entwicklungsbanken finanzierten Gold- und Kupferbergbaus recherchierte und wo noch über 90 Prozent der Bevölkerung eigenständig von der Subsistenzwirtschaft lebte. Doch einige von ihnen, die am Unterlauf des Ok Tedi lebten, konnten dies bereits nicht mehr. Denn aufgrund mangelnder Umweltschutzbestimmungen hatte die im Tagebau betriebene, gigantische Mine einen Großteil des Fluss-Systems mit giftigen Zyanid-Abwässern (Zyankali!) verseucht und zahlreiche Waldgärten am Ufer des Ok Tedi mit grauem schwermetallhaltigen Schlamm erstickt.

Weltweit verlieren bis heute aufgrund von falsch angesetzten Entwicklungshilfeprojekten, die lediglich dazu dienen, den Weltmarkt mit billigen Rohstoffen und willigen Arbeitskräften zu beliefern, jährlich zehntausende von Menschen ihr Land und ihre Existenz und werden zu wirklichen Armen, die dann in das Ein-Dollar-Schema der Entwicklungsexperten passen. So geschieht es gerade auch in Indien, wo im östlichen Bundesstaat Orissa Ureinwohner der international finanzierten Ausbeutung von Eisenerz-, Kupfer- und Bauxit-Vorkommen weichen sollen. An diesen, sich selbst versorgenden Ureinwohnern können weder die Transnationalen Konzerne noch die Banken oder Rentenfonds verdienen - mit der Ausbeutung von Rohstoffen schon eher. Deshalb müssen die noch nicht globalisierten Menschen weichen, in potentielle Lohnempfänger oder zumindest in vom Weltmarkt oder Agrarkonzernen abhängige Landwirte zur Produktion der so genannten Cash-Crops wie Soja, Kaffee, Kakao, Palmöl oder Baumwolle umgewandelt werden. Nur so fließt Geld in großen Mengen, kann sich Kapital vermehren. Und deshalb gibt es auch die Ein-Dollar-Definition für Armut. Denn so können Entwicklungsagenturen im Rahmen von internationaler Armutsbekämpfung ungestraft die als „rückständig“ entwerteten Subsistenzgesellschaften kaputtentwickeln und in den Weltmarkt zu integrieren. Schließlich gelte es, sie aus der Null-Dollar-Existenz zu erlösen und ihnen ein wie auch immer geartetes, finanzielles Einkommen zu verschaffen. Aber Null Dollar Einkommen auf dem eigenen Grund und Boden kann viel mehr sein als zehn Dollar pro Monat im Slum von Lagos oder in einer Bretterfavela am Stadtrand von Sao Paulo.

Ein fehlendes finanzielles Einkommen ist nach Meinung der indischen Ökologin Vandana Shiva deshalb auch gar nicht das Armutsproblem in der „Dritten Welt“. Es ist der fehlende oder verwehrte Zugang zu Ressourcen wie Trinkwasser und Nahrung. “Ein Leben in Subsistenz, was der reiche Westen als Armut bezeichnet, bedeutet nicht notwendiger Weise ein physisches Leben von geringer Qualität“, schreibt die indische Ökologin Vandana Shiva. „Im Gegenteil, auf Subsistenz basierende Ökonomien sichern eine hohe Lebensqualität — wenn man sie in Werten wie Recht auf Nahrung, auf gesundes Wasser, nachhaltige Existenz und stabile soziale Strukturen und kulturelle Identität misst.“

Wenn die UN und die staatlichen Entwicklungshilfeinstitutionen also wirklich die Armut in den so genannten Entwicklungsländern bekämpfen wollen, dann sollten sie zu aller erst ihre einseitig auf Geld ausgerichtete Definition von Armut über Bord werfen und die eigentlichen Ursachen für Armut beseitigen: Der rücksichtslose Hunger unserer Industrien nach Rohstoffen und neuen Märkten, das schier grenzenlose Profitstreben transnationaler Konzerne und ihrer Manager sowie die Ideologie des Wirtschaftswachstums. Denn dieses Wirtschaftswachstum funktioniert immer nur auf Kosten anderer.

Vandana Shiva: “Wenn wir wirklich ernsthaft die Armut beseitigen wollen, müssen wir ernsthaft die Systeme zur Anhäufung von Reichtümern, die die Armut erst schaffen, indem sie den Menschen (in der Dritten Welt) die Ressourcen rauben, beseitigen. Bevor wir die Armut zu einem Kapitel in der Geschichte machen können, müssen wir erst die Geschichte der Armut richtig begreifen. Es geht nicht darum, wie viel mehr wir geben, sondern darum, wie viel weniger wir nehmen können.“